Ich bin bei dir – Was Betroffene nach sexualisierter Gewalt wirklich brauchen
Ich bin bei dir – Was Betroffene nach sexualisierter Gewalt wirklich brauchen
Lisa 41, vergewaltigt:
„Chris war still. Kein Trostwort, kein gut gemeinter Ratschlag. Nur ein Mensch, der neben mir saß, atmete und da war. Sie sagte nur die Worte: „Ich bin bei dir.“In diesem Moment passierte etwas, das keine Therapie, kein kluges Gespräch und keine noch so gut gemeinten Sätze geschafft hätten. Mein Körper entspannte sich. Zum ersten Mal seit langer Zeit spürte ich: Ich bin nicht allein. Keine Fragen, keine Erwartungen, kein Druck – nur Präsenz. Das war der erste Schritt zurück ins Leben.“
In meiner Arbeit als Expertin für Narzissmus und psychische Gewalt habe ich viele Betroffene begleitet, die nach sexualisierter Gewalt nicht wussten, wie sie je wieder Vertrauen fassen können. Was ich damals erlebt habe, hat mir gezeigt: Heilung beginnt nicht mit großen Worten, sondern mit stiller, respektvoller Nähe.
Die Gesellschaft glaubt, helfen heiße reden, analysieren, trösten. Aber wer selbst sexualisierte Gewalt erlebt hat, weiß: Worte können überwältigen. Sie können sogar retraumatisieren, wenn sie im falschen Moment kommen. Was wirklich hilft, ist etwas, das wir viel zu selten lernen: einfach da sein. Schweigend, präsent, ohne Bedingungen.
Eine, die diese Haltung in beeindruckender Tiefe vermittelt, ist Agota Lavoyer, Fachberaterin für sexualisierte Gewalt. Sie zeigt unermüdlich auf, wie wichtig es ist, Betroffenen zuzuhören, ohne zu bewerten. Ihre Arbeit erinnert uns daran, dass Heilung ein Raum ist, den wir gemeinsam halten – nicht ein Prozess, den wir von außen beschleunigen.
Vielleicht hast du selbst schon einmal versucht, jemandem nach einer schweren Grenzverletzung beizustehen und dich gefragt: „Was sage ich bloß?“ Die Antwort ist einfacher, als du denkst. Du musst nicht die richtigen Worte finden. Du musst nicht alles verstehen. Du musst nur da sein – und bleiben.
Wenn du einem Menschen, der Gewalt erlebt hat, begegnet bist, dann erinnere dich: Deine stille, liebevolle Präsenz ist der Anker, an dem er sich festhält. Nicht für einen Moment, sondern für den Beginn eines neuen Lebensabschnitts.
Warum Schweigen lauter spricht als Worte
Nach sexualisierter Gewalt sind Betroffene in einem inneren Ausnahmezustand. Das Nervensystem steht unter Dauerstress, die Gedanken rasen, der Körper ist in Alarmbereitschaft. Gut gemeinte Ratschläge wie „Du musst darüber reden“ oder „Du musst es loslassen“ erreichen in diesem Moment nicht das Herz – sie prallen ab oder verstärken den Druck.
Schweigen hingegen kann wie eine schützende Decke wirken. Es signalisiert: „Ich halte das mit dir aus. Ich ertrage dein Schweigen, deine Tränen, deine Wut.“ Genau dieses Aushalten ohne zu drängen, kann der erste Schritt sein, um wieder Sicherheit zu spüren. Und Sicherheit ist die Grundlage jeder Heilung.
Was Betroffene wirklich brauchen
- Präsenz: Bleib körperlich und emotional anwesend, auch wenn du nicht weißt, was du sagen sollst.
- Respekt: Lass der betroffenen Person die Kontrolle darüber, wann und wie sie sprechen möchte.
- Geduld: Heilung ist kein geradliniger Weg. Es gibt Rückschritte, Zweifel und lange Phasen der Stille.
- Glaube: Zeige durch dein Verhalten, dass du glaubst, was dir erzählt wird. Zweifel zerstören Vertrauen.
- Schutz: Unterstütze, ohne Entscheidungen abzunehmen. Stärke die Selbstbestimmung der Person.
Agota Lavoyer beschreibt es treffend: „Wir können nichts reparieren. Aber wir können Räume schaffen, in denen sich etwas von selbst wieder zusammensetzt.“ Und genau darum geht es – nicht der Retter zu sein, sondern ein verlässlicher Begleiter.
So erkennst du, ob deine Hilfe gut ankommt
Manchmal fragen sich Unterstützende: „Mache ich das richtig?“ Die Antwort findest du in der Körpersprache der betroffenen Person. Atmet sie ruhiger? Sitzt sie entspannter? Sucht sie deinen Blick? Kleine Signale verraten, ob sie sich sicher fühlt. Und wenn nicht – bleib trotzdem, ohne zu drängen.
Was du vermeiden solltest
- Keine Fragen stellen, die ins Detail gehen – sie können retraumatisieren.
- Keine vorschnellen Ratschläge geben wie „Du musst Anzeige erstatten“ oder „Vergiss es einfach“.
- Keine Vergleiche ziehen („Anderen ist Schlimmeres passiert“).
- Nicht über die Person sprechen, ohne ihre Zustimmung.
Es ist nicht deine Aufgabe, Antworten zu geben. Es ist deine Aufgabe, Raum zu halten.
Wenn du selbst betroffen bist
Vielleicht liest du diesen Artikel und spürst,
Vielleicht liest du diesen Artikel und spürst, dass dich das Thema selbst betrifft. Wenn du Gewalt erlebt hast, erinnere dich: Es war nicht deine Schuld. Du hast ein Recht auf Unterstützung, auf Verständnis und auf Heilung in deinem Tempo. Suche dir Menschen, die dich halten können – ohne dich zu drängen.
Mehr Antworten zu Fragen rund um Trauma, Narzissmus und Heilung findest du in meinem großen Narzissmus-FAQ.
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Mehr zu meiner Arbeit und meinen Büchern findest du hier.
Meine kostenlose Selbsthilfegruppe online für Frauen
Wo du Hilfe bekommst
Schweiz – Hilfsangebote für Betroffene
- Opferhilfe Schweiz – Informationen und Adressen aller kantonalen Opferberatungsstellen
- Opferhilfe-App – Soforthilfe, Adressen, Notrufnummern
- Lilli – Sexualaufklärung und Hilfe für Jugendliche & junge Erwachsene
- Telefon 143 – Die Dargebotene Hand – anonym & rund um die Uhr
- Frauenhäuser Schweiz & Liechtenstein – Schutz & Unterkunft
Deutschland – Hilfsangebote für Betroffene
- Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“ – 08000 116 016 – kostenlos, anonym, 24/7, in 18 Sprachen
- Nummer gegen Kummer – Kinder & Jugendliche: 116 111 – kostenlos & anonym
- Weisser Ring – Hilfe für Opfer von Kriminalität und Gewalt
- Frauenhauskoordinierung – Übersicht aller Frauenhäuser in Deutschland
- Telefonseelsorge – 0800 111 0 111 oder 0800 111 0 222 – kostenlos, anonym, 24/7